Montag, 28. September 2009

Alpdrücken

Die Ängste der Nacht hatten schon viele kalte, wäßrige Perlen auf meine Stirn gezaubert, während düstere Visionen und innere Ängste mich unruhig hin und her wälzen ließen und meine Laken zerwühlten. Endlich schreckte ich mit weitaufgerissenen Augen, nach Atem ringend aus meinen Angstvisionen auf, da saß der Alp noch auf meinem Bett und drückte mit Urgewalten auf meine Brust. Seine Feueraugen sahen tief in meine Seele hinein während seine schwarze Silhouette mit der Finsternis der Nacht zu verschmelzen schien.
„Die Wirklichkeit hat sie gefressen, die Träume deiner Kindheit, die Sehnsüchte deiner Jugend, nun bin ich da und ich werde sie zerschmettern deine letzten Sehnsüchte, dein Verlangen, dein zartes Streben nach Glück!“, echoten seine unausgesprochenen Worte in meiner Seele wieder, „Ja mein Freund, ich bin dein schlimmster Feind, ich kenne dich wie mich selbst und du weißt warum: Ich bin du!“
Ein Schrei wollte meinen Mund verlassen, wollte die Stille der Nacht durchbrechen und ihren Schrecken vertreiben, doch war meine Kehle wie zugeschnürt, so brachte ich nur ein leises Krächzen hervor, was mein Alp mit einem widerwärtigen Lachen kommentierte. Starr vor Angst rang ich nach Atem, mit zitternder Verzweiflung begrüßte mein Körper jedes Sauerstoffmolekül, welches in meine Blutbahn gelangen konnte. Das sadistisch triumphierende Grinsen seiner Augen machte mich schauernd. Der Alp genoß jede Sekunde seines tyrannischen Spieles, endlich nahm er den Druck von meiner Brust und ich konnte wieder frei atmen. Dankbar sogen meine fast schon mit einem anaeroben Gasgemisch gefüllten Lungen die Umgebungsluft ein, und mit ihr auch den Alp, den ich selbst geschaffen hatte. Mein panisch schlagendes Herz beruhigte sich wieder, schließlich schlief ich vor Erschöpfung ein.

Als am nächsten Morgen der Wecker klingelte schien wie zum Gruße des neuen Tages die Frühlingssonne zum Fenster hinein und vertrieb mit dem fröhlichen Vogelgezwitscher die Spukgestalten der letzten Nacht. Einzig meine durchnäßte Bettstätte war als Mahnmal ihres Schreckens verblieben. Von der Fröhlichkeit des Morgens ergriffen schlenderte ich zur Dusche und genoß wie das heiße Wasser mir den kalten Schweiß von der Haut spülte. Dann ging es mit einem Lied auf den Lippen in die Küche, wo ich mich mit ein paar aufgebackenen Croissants und heißem Kaffe für die Unternehmungen des anstehenden Tages stärkte, um mich dann – die Autoschlüssel um meinen Finger kreisen lassend – zu meinem fahrbaren Untersatz zu begeben und mich auf den Weg zur Arbeit zu machen. Ich war grade ein paar Meter gefahren, als ich bemerkte, daß sich der Frontspiegel irgendwie verstellt haben mußte. Ich wollte ihn mit ein paar schnellen Handgriffen neu justieren, da streife ein Augenpaar durch den Spiegel und ich erschauerte, erinnerten sie mich doch an die Augen, die sich gestern Nacht in meine Seele gebrannt hatten. Und obwohl es unverkennbar meine Augen waren, breitete sich doch ein großes Unwohlsein in meinem Körper aus und eine innere Stimme sagte zu mir: „Na, ist es nicht bald so weit? Dann wirst du dich verkaufen! Alles woran du geglaubt hast, wofür du die vergangenen Jahre mit viel Fleiß und Ehrlichkeit gekämpft hast, wirst du verraten. Aber es ist verständlich, der Preis war einfach viel zu gut und du bist ein wesen aus Fleisch und Blut, wie hättest du ihm widerstehen können? Du hast ihnen deine Hand darauf gegeben und in ein paar Tagen wirst du diesen Handschlag besiegeln müssen. Und mich kriegst du gratis dazu, ich bin dein Alptraum, nenn mich dein Gewissen!“
Das Auto war von der gleichen Eiseskälte erfüllt wie gestern mein Schlafzimmer. Mir schauderte es, mein ganzes Innerstes war aufgewühlt. Als mich der Wagen von der Gegenfahrbahn mir mit lauten Hupen wieder in die Wirklichkeit schleuderte. Grade rechtzeitig konnte ich das Steuer herumreißen und eine Kollision verhindern. Völlig mit den Nerven am Ende hielt ich am rechten Straßenrand und brachte mit tiefen Atemübungen mein rasendes Herz wieder unter Kontrolle. Dann endlich konnte ich den Weg zu meinem Labor wieder aufnehmen.

Die nächsten Tage verliefen verhältnismäßig ruhig, nur ein leichtes aber stetiges Unwohlsein und ein paar kleinere Magenprobleme sollten meine treuen Begleiter werden, doch blieben weitere Alpträume aus und gerieten sogar sehr bald in Vergessenheit. So, daß ich mich wie vereinbart an den Texten meiner Rede zu schaffen machen konnte. Vielleicht verspielte ich mein durch beschwerliche Arbeit erworbenes Renommee, vielleicht würde ich die Fachwelt in Aufruhr versetzen, aber dieses Wort würden in der breiten Öffentlichkeit einiges an Gewicht haben, galt ich doch als Koryphäe auf meinem Gebiet. Ich muß wohl nicht extra betonen, daß mir, bei den Arbeiten an meiner Rede, nicht grade wohl war und ich ging oft mit mir hadernd im Raum auf und ab, doch war der Preis einfach viel zu verlockend und meine Gönner waren einfach viel zu mächtig. Sie würden es mir nie verzeihen, wenn ich mein damals leichtfertig gegebenes Wort nun wieder brechen würde, dann hätte ich mit den schlimmsten Konsequenzen zu rechnen. Also machte ich mich meist widerwillig, aber auch immer wieder mit einer mir bisher unbekannten Gier meinen mir versprochenen Preis entgegenfiebernd daran, die Rede nach ihrem Gusto fertigzuschreiben. Die Zeit kroch dahin, die Sekunden bis zu dem großen Symposium – auf dem auch viele Vertreter der Presse erwartet wurden – verrannen nur sehr zäh. Es war das warten, welches mich verrückt machte. Mal wartete ich mit fiebriger Gier auf den Preis für meinen Verrat, mal wollte ich nur weg und diese Situation meiden. Manchmal hatte ich das Gefühl mich nicht mehr selbst zu kennen. War das ein neues Ich, welches mir bei der morgendlichen Toilette im Spiegel entgegenstarrte? Eines von dem ich mir oft genug wünschte es nie kennengelernt zu haben.

In diesem Zustand der Beklemmung verbrachte ich die nächsten Tage. Dann aber war es soweit, der Tag den ein Teil von mir so sehr entgegenfieberte, während ein anderer Teil das Gefühl hatte ich würde mich freiwillig meiner eigenen Kreuzigung entgegenschleppen, war gekommen. Mit einem Stein im Magen schleifte ich mich zum Frühstück und versuchte es so gut es ging hinunterzuwürgen, wie in Trance fuhr ich zum Symposium und schlich mich hinter die Bühne, wo mich drei hochgewachsene Herren mit perfekt sitzenden Anzügen abpaßten.
„Geht alles klar?“, flüsterte der mittlere von ihnen, während seine Kohleaugen in dem ansonsten aus starren Stahl geschmiedeten Gesichtszügen unruhig hin und hertanzten. Ich nickte und er überreichte mir hastig einen Briefumschlag, denn ich schnell in der Innentasche meines Anzuges verschwinden ließ. Einen Moment stutzte ich, ich hätte schwören können, daß die Augen der drei rot aufflammten, als sie sich von mir entfernten. Nein, das konnte nicht sein, derlei war unmöglich. Ich mußte mich geirrt haben, oder es waren die Lichtreflektionen der Scheinwerfer, die dieses Kuriosum verursacht hatten. Ich hatte auch keine Zeit weiter darüber nachzudenken, denn mein Vortrag sollte gleich beginnen. Auf dem Weg zum Podium spürte ich wie der Umschlag mir voll unheilvollem Verlangen in meiner Innentasche brannte. Alles schien wie im Nebel, das Getöse der Menschenmassen war weit weg, als ich mich zum Rednerpult aufmachte. Noch einmal kämpfte ich mit mir, einen Kampf der längst entschieden war. Ich versuchte Worte herauszuwürgen, schluckte schließlich den Kloß in meinem Hals herunter und begann mit möglichst sicherer Stimme zu sprechen: „Die Atomkraft ist sicher! …“